Artikel vom 01.02.1998
Riesige Tierherden wandern nachts kilometerweit durch den Wald. Sie folgen dabei seit Generationen dem gleichen Weg. Die Straßen, die sie dabei überqueren, werden von der Polizei gesperrt, und die Autofahrer durch das Radio gewarnt. Wo eine Sperrung nicht möglich ist, werden die Tiere von freiwilligen Helfern über die Fahrbahn begleitet, an manchen Orten werden auch die Straßen aufgerissen und Unterführungstunnel gebaut, um den Tieren ein gefahrloses Unterqueren zu ermöglichen.
Was sich anhört wie ein Bericht aus fernen Ländern, spielt sich in jedem Frühjahr bei uns zu Hause ab. Die Erdkröten, um die es sich dabei handelt, sind zwar nur faustgroß, doch immer mehr Menschen haben Interesse am Leben dieser sonderbaren Tierart gefunden, so daß entsprechende Verkehrssicherungsmaßnahmen schon allein wegen der Tierfreunde notwendig werden, die die Tiere nachts über die Straße tragen (schließlich gab es schon Unfälle mit Todesfolge).
Was ist so faszinierend an diesen kleinen warzigen Gesellen, dass manche ihr Leben für sie riskieren? Liegt es an ihrem Aussehen, ihrer Lebensweise oder steckt mehr dahinter?
Die Erdkröte verbringt den Winter typischerweise eingegraben im Waldlaub. Wenn die Tage im Februar und März länger werden, erwacht sie aus ihrer Winterstarre und wartet auf einen geeigneten Zeitpunkt, die Wanderung zu ihrem Laichgewässer zu beginnen. Wenn es jetzt noch anfängt zu regnen, sind die Tiere nicht mehr zu halten. Als hätten sie sich abgesprochen, machen sie sich aus allen Richtungen auf den Weg zu dem Teich, in dem sie geboren wurden. (Diese „geheime Absprache“ funktioniert so gut, daß in einer Nacht weit über tausend Tiere beim Überqueren einer Straße gezählt wurden, und in den darauffolgenden Nächten nur ein paar Dutzend. Tage später wieder tausend.)
Wenn sich auf der langen Wanderung Krötenmännchen und Krötenweibchen begegnen, nimmt das Weibchen das viel kleinere Männchen auf den Rücken und trägt es den weiteren Weg. In dieser typischen Haltung als „Doppeldecker“ treffen die Tiere dann in ihrem Teich ein. Hier befinden sich bereits etliche andere, und spätestens hier treffen sich auch noch die letzten Pärchen um ihre Eier abzulegen, indem sie diese in langen Schnüren um Pflanzenstengel wickeln. Natürlich gibt es auch einige Nachzügler, die selbst im April noch nicht in ihrem Teich angekommen sind. Gerade diese sind es, die neue Teiche besiedeln und ihre Eier sogar in Pfützen ablegen.
Nach der Eiablage verlassen die Elterntiere wieder das Gewässer und verbringen den Sommer auf Wiesen, Feldern und Gärten, wo sie Insekten jagen, um sich im Herbst wieder im Laub zu vergraben und auf das nächste Frühjahr zu warten.
Je mehr man über die Lebensweise der Kröten weiß, desto interessanter werden sie. Und so haben sich diese ehemaligen Ekeltiere in den letzten Jahren zu Sympathieträgern entwickelt. Gleichzeitig stieg aber die Bedrohung der ansonsten recht anspruchslosen Kröten durch die moderne Landwirtschaft und den zunehmenden Straßenverkehr, da es immer weniger Platz für Teiche gibt und die Tiere immer längere Wanderwege zurücklegen müssen.
Wer sich für Kröten interessiert, kann sich von Ende Februar bis Anfang April nach feuchtwarmen Nächten, die wir Menschen allerdings noch als nasskalt empfinden, auf die Suche machen. Eigene Verkehrszeichen im Wald zwischen Auringen, Heßloch und Kloppenheim oder im Goldsteintal, zeigen an, dass man sich im Krötenland befindet. Hat man dann noch das Glück gerade einen der Hauptwandertage zu erwischen, kann man dem faszinierenden Schauspiel der Krötenwanderung selbst am hellen Tage zusehen. Später im April lohnt sich der Blick auch in kleine Teiche oder Pfützen, denn hier findet man häufig Nachzügler oder wenigstens ihre Eier, die sie in Schnüren um Pflanzen wickeln. Und wenn man ganz bewusst danach sucht, versteht man auch, warum die Erdkröte zu einer Symbolfigur für den Naturschutz geworden ist: Wo gibt es eigentlich noch einen Teich?