…Fruchtstand einer heimischen Orchidee
Eine kleine Orchideen-Geschichte von Thomas Burckard
Es ist der Morgen des 21.Septembers 2000; 6:49 Uhr; 9°; relative Luftfeuchte 86%; Himmel bewölkt; kein Niederschlag in der Nacht; 210 m über NN; Rheingau/Hessen; Deutschland.
Irgendwo oberhalb von Geisenheim….
Ooooh schon wieder eine Nacht rum. Jetzt gegen Herbst wird es immer schwieriger, aufzuwachen. Die Luft ist raus. Ich sag ja immer: bald ist Schluss. Aber bevor ich endlich in den verdienten Ruhestand gehen kann, müssen meine Babys noch raus. Es gibt ja immer noch einige Faulpelze, die den Weg in die Selbständigkeit nicht wagen wollen. Verzogene Gören – das sind bestimmt die Gene des Vaters.
Ah, da kommt die Sonne raus – endlich! Die Nächte werden immer kühler, da bin ich froh um jeden Sonnenstrahl, der wärmt. Ich und meine Geschwister werden bald wieder in die Erde zurückgehen, um den Winter geschützt zu verbringen. Die Blätter sind ja schon längst abgebaut und haben sich ins Winterquartier verzogen. Nur wir Fruchtstände müssen wieder ausharren, bis auch der letzte Samen ausgefallen ist. Eine mühselige Plackerei. Hätten wir Hände, wie die Menschen, wäre es einfacher. So sind wir immer auf den Wind angewiesen. Und heute…- Moment mal – He Nachbarin, hast Du gehört, dass es Wind geben soll? Heute?
Wir haben wirklich das beste Nachrichtensystem der Welt – leider ist es ziemlich durchlöchert, aber über Umwege bekommen wir doch immer alles mit. Fast so wie bei den Menschen das Internet – habe letztens davon gehört. Coole Sache, aber unser „Internet“ ist älter. Und zuverlässiger. Funktioniert auch bei Stromausfall. Woher ich das weiß mit dem Internet? Tja….also….da lagen irgendwo ein paar Millionen Hyphen westlich ein paar Blech-/Plastikteile am Straßenrand. Und wie Gräser nun mal so sind, ging gleich die Fragerei los: „Was seid ihr denn für welche? Wo kommt Ihr her?“ Schwuppdiwupp haben sie herausbekommen, dass es Computerteile waren, die die Menschen nicht mehr gebrauchen konnten. Also – das ging ja über 10 Ecken, aber was die alles so erzählt haben. Waaahnsinn!
Wir können schon froh sein, dass es die Gräser gibt. Obwohl – manchmal werden sie echt zur Plage, wenn zu viele um einen herumstehen, bekommen wir keine Luft und wir müssen unseren Geist aufgeben. Aber als Nachrichtendienst: SPITZE ! Ach ja, Nachbarin hat keine Ahnung, ob es heute windig wird. Eichenwurzel wispert was von Gewittern am Nachmittag. Hat aber dann auch keinen Zweck, denn nasse Samenkinder fliegen nicht. Aber vielleicht gibt es wenigstens vorher ein paar Böen. Die Chancen stehen schon ganz gut. Hier im Rheingau ist es ziemlich trocken – sagt man wenigstens. Da ziehen Gewitter oft vorbei. Habe schon häufig gehört, Kollegen an den Rheinhängen -übrigens sehr romantisch dort- freuen sich, dass es regnet. Und bei uns hier unter den Bäumen kommt kein Tropfen an. Manchmal sind die Sommer hier wirklich hart.
Wo wir gerade von der Sonne reden, immer so zwischen 9 und 10.30 Uhr – nach menschlichen Maßstäben – stehe ich voll in der Sonne. Das hat den immensen Vorteil, dass ich schnell warm werde. Vielleicht ist das der Grund, warum ich etwas größer bin als meine Nachbarinnen und mehr Kinder habe. Zur Strafe muss ich aber auch immer besonders lange abwarten, bis alle weg sind. Na ja. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel hat im Mai eine von unserer Vorhut – Sie wissen schon, unten am Weg – von einem Menschen ziemlich eins auf den Deckel bekommen. Mitten in der Blütezeit trampelt so ein Hampel auf ihr herum. Da war es natürlich aus mit Wachstum. Sie hat sich in die Knolle zurückgezogen. Mal sehen, ob sie nach dem Winter wiederkommt. Hoffentlich passiert mir das nicht!
Aber jetzt habe ich wohl genug geredet. Wird Zeit, mal zu frühstücken. Die Sonne kommt jetzt genau ins Zentrum unserer Wiese. Das ist was Feines! Frühstück im Sonnenschein! Der Tau auf meinen Samenschuppen ist schon fast getrocknet. Jetzt wird’s gemütlich: erst mal die Saugwurzel aktivieren. Sie werden schon ganz träge. Eigentlich brauche ich gar keine Nährstoffe mehr. Die Kinder sind groß, ich bin sowieso ganz braun – ja – mein Chlorophyll ist schon unten in der Knolle. Brauche ich ja nicht mehr! In der Erde kann es bis nächstes Frühjahr lagern, da kann es wenigstens nicht kaputt gehen. Aber ehrlich gesagt, es macht zu viel Spaß, zu essen. Möchte eigentlich nicht darauf verzichten. Noch tanken, solange es geht und die Leitung noch steht. Wenn es dann richtig kalt wird und alle Kinderchen weg sind, gehe ich auch nach unten. Aber Eichenwurzel meint, es gibt einen langen milden Herbst. Da hab ich ja Zeit. Und jeder Morgen bedeutet auch wieder neue Nährlösung – mit Informationen. Denn Nahrungsaufnahme und Nachrichtendienst hängen eng zusammen. Die Ionen von Kalium, Kalzium, Eisen, Bor und Oha-Minus (komischer Name, gell?) schmecken nicht nur gut, sie haben auch Spuren von Phytohormonen und Botenstoffen in sich. Da bekommt man jede Einzelheit mit. Egal von wie weit. Hauptsache, es ist keine Autobahn oder ein Fluss dazwischen. Bei Flüssen werden die Umwege zu groß. Autobahnen sind zu breit, da kommt kein Pilzgeflecht mehr drunter durch. Außerdem, diese ständigen Vibrationen! Das hält kein Pilz aus. Aber hier ist es noch in Ordnung. Der Rhein da unten murmelt so im Hintergrund. Nachrichten von der anderen Seite sind spärlich und viele Jahre alt. Die müssen über die Alpen, hab ich gehört, was immer das sein mag. Aber die anderen drei Seiten sind wirklich sehr informativ. Nur bei Westwetterlagen sind wir ein wenig benachteiligt. Die Wetterberichte aus der Westseite werden vom Rhein abgefangen. Dafür ist es bei Nordwind klasse. Wenn da eine Kaltfront dem Norden kommt, wird das von Wurzel zu Wurzel weitergegeben. Da wissen wir jetzt schon, wie gerade in Limburg das Wetter ist und können uns darauf einstellen. Gewitter kommen meistens von der anderen Rheinseite. Das erwischt uns immer ziemlich heftig. Die Bäume können es etwas ausgleichen. Sie sehen die dunklen Wolken. Aber Bäume sind ja bekanntlich träge. Bis die Information in den Wurzeln ist – das dauert.
Huch – die Sonne geht weg. Es scheint sich zu bewölken. Auch gut. Ein leichter Wind ist nie verkehrt. Aber was ist das für ein Vibrieren im Boden? „Knolle, was ist los?“ Ach ich hätte es fast vergessen: gestern waren sie ja auch schon da. Die Menschen! Jawohl – Menschen gibt es hier auch. Die meisten sind harmlos, aber einige…. Ungefähr 72000 Hyphen von hier stehen Weinreben. Den geht’s ja ziemlich mies! Ständig diese Quälereien von den Menschen: sie werden mit Gift vollgespritzt, dauernd amputiert und zu allem Überfluss auch noch brutal ihrer Kinder beraubt. Ich könnte mich ja aufregen…!
Im Moment ist großes Wehklagen im Weinberg. „Die Lese hat begonnen, die Lese hat begonnen.“ Ständig diese Warnungen. Und dieses stinkende Ungetüm, was so die Erde erzittern lässt, hat damit zu tun. Ein Schleppä oder so. Wir müssen ja auch aufpassen. Kürzlich kam mal so eine Giftwolke zu uns geflogen. Käfers Karl hat davon ziemlich Rückenschmerzen bekommen. Er lag drei Tage unter einem Primelblatt, bevor er wieder zum Vorschein kam. Unseren Knollen hat es nichts ausgemacht. Aber man weiß ja nie, was die als nächstes in die Luft jagen. Bekannte aus dem Thüringer Paradies – da das ist eine tolle Gegend, heißt es, Schlaraffenland für unsereins – Kalzium ohne Ende!! Also im Thüringer Paradies haben sie eine Autobahn gebaut. Unsere Bekannten – übrigens eine Riesen-Familie – haben gesagt, seitdem ist die Luft voll von Schwermetallen und diesem ätzenden En-O-Ix. Na, aus der Traum vom Paradies.
Ich hab meinen Kindern ja immer gesagt: seht zu, dass ihr so weit wie möglich nach Osten kommt – Richtung aufgehende Sonne. Da soll es Kalkgebirge geben, Thüringer Wald, Rhön, Fränkische Schweiz, so heißen die. Aber Thüringen werde ich nicht mehr empfehlen. Ist wohl nicht mehr erste Wahl. Schade. Aber so ist es überall! Schöne Plätze zur Keimung sind selten geworden. Selbst diejenigen, die hier unter uns neu auskeimen, beschweren sich über die schlechten Bedingungen. Unser Stammpilz, Mykorrhiza irgendwie heißt er, ist ziemlich schwach geworden. Und ohne ihn gibt es keine Keimung – ist doch klar. Weil er uns doch helfen muss mit seinen Wurzelfädchen, den süßen, mikroskopisch kleinen. Schließlich liefert er uns doch die Anfangsnahrung. Weil unsere Kinder doch keine Nährstoffe auf ihrer Reise mithaben. Wäre ja auch viel zu schwer. Entweder weit ins Land hinauskommen und mit Pilz-Hilfe neue Nahrungsquellen erschließen, oder mit einem schweren Rucksack vor der Haustür versauern. Was ist uns denn lieber? Hier ist es ja auch nicht gerade schön. OK, man kann es aushalten. Aber was man so hört…. Ausgegraben hatten sie einen von den Stinkefingern. So heißen die bei uns. Die Menschen sagen Bocksriemenzunge, weil sie so komisch riechen. Drüben am Rheinhang. Zwei Stück!! Stell ich mir lieber gar nicht vor. Von einem haben wir nie mehr was gehört. Der andere hatte noch ungefähr einundzwanzig Sonnenaufgänge lang schwach gejammert. Dann war es auch still. Ein Elend! Unsere Anführerin, die Große Masculine hat daraufhin auch gewarnt. Wenn Menschen in die Nähe kommen: so unauffällig wie möglich machen. Leicht gesagt, aber schwer getan, bei unserer lilafarbenen Blütenpracht. Immerhin wollen wir ja die Hummeln und Fliegen anlocken. Nicht die Menschen. Aber wir stehen gottlob ziemlich versteckt. So versteckt, dass ich, wenn ich die Verbindung zum Netz nicht hätte, nichts mehr von der Welt mitbekommen würde außer der Sonne am Vormittag und dem Regen, wenn mal einige Tropfen durch das Blätterdach meiner Hauseiche tropfen.
Was kommt da? Es raschelt im Gebüsch? Wird doch wohl kein Wildschwein sein? Die gibt’s hier auch – nicht so viele wie im Rheintal, aber eins reicht! Am falschen Ort die Schnauze durch den Boden gezogen und futsch ist die Knolle. Ende-Aus-Micki-Maus! Nein – viel schlimmer! EIN MENSCH! HIIIILLLLFEEEE! Was soll ich bloß tun? Ganz still. Nicht atmen – obwohl: die Menschen können uns nicht hören. Ganz schön blöd sind die. So hilflos. Aber trotzdem gefährlich – oder vielleicht gerade deshalb! Gaaanz still!!!! Was holt der da aus dem Rücksack? Sieht aus, wie eine Holzkiste. Und das andere? Eine Schere mit roten Griffen? Rosenschere?! Oh je…